Programmers Paradise
Er stürzte die achte Tasse nachtschwarzen Kaffees hinunter, oder war es schon die neunte? Das wusste er nicht so genau, aber auch dieser Kaffee war stark und nur noch lauwarm, wie alle seine Vorgänger. Aber er wusste, dass er dieses verdammte Problem endlich in den Griff kriegen musste. Morgen wollte sein Boss das Programm vor einem wichtigen Kunden zeigen und ausgerechnet heute kam auf einmal diese Fehlermeldung, deren Herkunft er sich nicht erklären konnte. Dabei hatte er doch nur ein paar Optimierungen am Code vorgenommen und ein bisschen für Ordnung gesorgt.
Der nassforsche Naseweis an der Hotline, die er vor ein paar Stunden angerufen hatte, ließ sich zuerst sein Problem schildern um ihn dann eiskalt mit der Feststellung, dies wäre Programmiersupport und dafür bräuchte er einen Supportvertrag, abblitzen zu lassen. Einen solchen Supportvertrag konnte er seinem Boss niemals aus dem Bauch leiern, dafür war der viel zu geizig. Außerdem musste er jetzt wissen, was da nicht geht, verdammt noch mal!
Wieder sah er den Quelltext am Bildschirm durch. Er konnte keinen Fehler finden. Der blöde Compiler musste einfach spinnen. Er änderte aufs Geratewohl ein paar Optionen und ließ das Programm erneut kompilieren. Verdammt, der Kaffee war schon wieder leer, der schmeckte zwar nicht besonders, aber es war das einzige, was er zu sich nehmen konnte. Missmutig stapfte er zur Küche, um seine Tasse aufzufüllen und dabei gleich eine neue Kanne aufzusetzen. Die würde er sicherlich noch brauchen.
Warum musste er auch heute vor der Präsentation auf die Idee kommen, noch was am Programm ändern zu wollen? Dem Boss hatte er natürlich nichts gesagt, aber er musste das Programm wieder hinbekommen. Was passieren würde, wenn ihm das nicht gelingen sollte, mochte er sich lieber nicht vorstellen.
Auf dem Gang kamen ihm die letzten Kollegen entgegen. Sie glotzten ihn an und riefen ihm halb im Scherz zu: „Na Rüdiger, noch Stress zu so später Stunde? Also schönen Feierabend noch.“
Er antwortet nicht, vor allem weil ihm gerade jetzt der diesmal richtig heiße Kaffe über die Finger zu schwappen drohte. ‘Ihr Idioten’, dachte er bei sich.
Der Compiler war inzwischen durchgelaufen. Natürlich fand der an seinem Code nichts auszusetzen, aber fehlerfrei laufen würde das Programm trotzdem nicht, da war er sich sicher. Jetzt noch den Linker starten und dann konnte er zum x-ten Mal einen Test durchführen, dessen Resultat er schon genau kannte. Er blickte aus dem Fenster. In den Bürohäusern ringsum waren nur noch wenige Fenster erleuchtet. Ob dahinter auch so arme Schweine saßen, wie er eines war, oder ob die einfach nur vergessen hatten, das Licht auszumachen?
Auch der Linker war jetzt fertig und er konnte sein Programm starten. Er klickte ein paar Mal mit der Maus auf der Oberfläche herum und natürlich, da war sie wieder, diese verdammte Fehlermeldung. Er musste also sein Programm auf Maschinenebene testen. Dies hasste er besonders, weil es kompliziert und langwierig war, aber er hatte keine Wahl.
Er wühlte sich also durch einen Wust von hexadezimalen Ziffern auf dem Bildschirm, notierte sich Registerinhalte, raufte sich zwischendurch das lichter werdende Haupthaar und schüttete Unmengen von Kaffee in sich hinein. Er wusste nicht, wie lange er das schon getan hatte, aber irgendwie hatte er das Gefühl, er würde immer kleiner werden und der PC vor ihm würde im Gegenzug immer größer. Dies war ihm jedoch nicht unangenehm, denn er spürte, er würde der Lösung näher kommen. So machte er weiter wie bisher, erledigte fast wie in Trance die Wege zur Küche, um den Kaffeestrom in seinem Organismus nicht versiegen zu lassen und plötzlich war es passiert: Er war winzig klein geworden und stand auf dem Schreibtisch neben seinem riesigen PC.
Er spürte aber, dass er der Lösung ganz nahe war. Er hangelte sich am Rechnergehäuse hoch und schlüpfte durch einen Lüftungsschlitz ins Innere.
Zuerst sah er fast nichts und es wehte ihm ein trockener, warmer Luftstrom entgegen. Er ging ein paar Schritte, bei denen er sich recht kräftig gegen diesen Wind stemmen musste der ihm fast den Atem nahm. Plötzlich hörte er eine Stimme neben sich. Im schwachen Schein einiger Leuchtdioden sah er einen langhaarigen Typen in Badelatschen auf sich zukommen. „Hi“ sagte der Typ, „willkommen in unserer Welt. Ich bin Clifford und wer bist Du?“ „Ich…ich weiß nicht…“. „Na, ist ja auch egal, komm erst mal mit zu einem Platz, wo es nicht so zieht wie hier.“ Sie liefen beide zum Rand des Festplattengehäuses. Bei jedem Plattenzugriff bebte der Boden bedrohlich unter ihren Füssen, aber sie erreichten schließlich einen Kabelbaum, an dem sie herunterklettern konnten. Sie gingen noch ein paar Schritte, bis sie im Schatten eines großen Chipsockels standen. Hier waren noch mehr Leute. Die ersten waren auf Rüdiger aufmerksam geworden und kamen auf ihn zu. „Hey, seht mal, ein Neuer. Wie heißt Du denn?“ „R..Rüdiger…“ stotterte Rüdiger völlig verwirrt. ‘Was machen diese Kerle alle in meinem Rechner?’ dachte er bei sich ‘Und was mache ich in meinem Rechner?’ Dann fiel ihm wieder ein, weshalb er hier war: „Ich suche einen Fehler.“ „Hahaha…habt ihr das gehört, er sucht einen Fehler!“ rief einer und die anderen lachten laut. „Mann, hör zu. Wir haben auch alle mal einen Fehler gesucht, genauso wie Du jetzt. Und was haben wir hier drin gefunden? Schrott, nichts als Schrott, der die Arbeit nicht lohnt, um hier noch vernünftige Programme zu schreiben.“
„Entschuldige“, flüsterte ihm Clifford zu, „wir sind hier zwischen den Zynikern gelandet, aber ich bring Dich zu den echten Freaks. Komm mit.“ Und zu den anderen: „Also Jungs, macht’s gut, see you.“
Sie liefen im Zickzack um einige Chipsockel herum. „Tritt nicht auf die Busleitungen“, rief ihm Clifford zu, „sonst stürzt die Kiste ab und wir haben eine Weile erst mal kein Licht“.
Neben einem Sockel stand ein Schreibtisch, der in mehreren Schichten mit aufgeschlagenen Büchern bedeckt war. Dort saß ein bärtiger, dürrer Mann mit Nickelbrille, der unentwegt murmelnd wilde Zeichenfolgen aufs Papier warf. „Das ist Simon“, sagte Clifford, „der arme Simon. Er wollte immer die ultimative Programmiersprache erfinden. Er nannte sie Big Chat oder so, aber außer ihm hat nie einer so richtig kapiert wie sie funktionieren soll. Jetzt sitzt er hier und spinnt den Prozessorcache voll. Ihn fragst Du besser nicht nach Deinem Fehler.“
Sie gingen weiter und kamen bald an einem anderen Schreitisch vorbei. Hier saß ein ziemlich dicker Kerl in T-Shirt und Jeans und starrte Löcher in die Luft. Auf dem Schreibtisch stand eine riesige Pyramide aus Coladosen. „Jeff ist der einzige von uns, der seinen Stoff immer noch braucht, denn Cola bringt es einfach nicht so wie Kaffee. Aber das weißt Du ja sicherlich genauso gut wie ich. Jeff ist ein genialer C-Programmierer von einer großen amerikanischen Softwarefirma. Dort haben Sie ihn anscheinend noch gar nicht vermisst. Doch wir brauchen ihn hier, deswegen bringen wir ihm seinen Stoff immer mit. Es gibt ja draußen genug User, die Cola über ihre Tastaturen schütten und die kriegt dann Jeff.“
Jetzt hatte Jeff die beiden bemerkt. Verstört sah er erst auf Rüdiger, dann auf Clifford. „Hi Cliff, wer ist das?“ „Das ist Rüdiger, er sucht einen Fehler.“ „Ach ja? Pass bitte auf, dass er mich nicht verrät. ER muss ja nicht wissen, das ich hier bin.“ „Ist schon OK“ meinte Clifford beruhigend, „er wird dicht halten.“ Nach ein paar Schritten packte Rüdiger den vor ihm gehenden Clifford an der Schulter „Was werde ich nicht verraten? Und wem ?“ „Ok, ok ich sag’s Dir ja. Siehst Du da hinten über dem Prozessor das Leuchten? Da sitzt Bill. Er ist eigentlich der Boss von Jeff und darum darf er natürlich nicht wissen, dass Jeff auch hier ist. Noch ein paar Schritte, dann siehst Du ihn genauer. Komm am besten hier rauf.“ Sie kletterten auf einen Sockel. Jetzt konnte Rüdiger auch Bill sehen.
Er sah aus wie ein etwas zu alter Student. Besonders auffällig war die riesige Brille, die er ständig wieder auf der Nase nach oben schob. „Bill ist schon recht lange hier und er glaubt eigentlich, dass ihm hier drin schon alles gehört und er alles erfunden hat. Na ja, wir lassen ihn in dem Glauben. Solange er auf seinem Prozessor sitzen bleibt, kann er keinen Schaden anrichten. Aber komm, wir wollen jetzt Deinen Fehler suchen.“
Nach einer Weile fanden sie einen Mann, der wie ein Automechaniker mit dem Oberkörper in einem aufgeklappten Speicherchip steckte. „Hi Mike“, rief Clifford, „darf ich Dir Rüdiger vorstellen? Er sucht einen Fehler.“ Mit leisem Ächzen wandte Mike seinen beleibten Oberkörper aus dem Chipgehäuse und klappte den Deckel zu. „Hi Rüdiger, nett Dich kennenzulernen. Ich kümmere mich hier um die Fehler. Einmal natürlich die Fehler, welche die Jungs hier drin machen, aber das ist nicht das Schlimmste. Vor allem die User draußen machen mir Sorgen. Da komme ich oft kaum noch nach. Und nur wenige von Denen schaffen es, soviel Koffein zu sich zu nehmen, dass sie zu uns kommen können, um mir zu helfen. Aber sieh Dir das hier doch mal an. Vielleicht kommt es Dir ja schon bekannt vor.“ Mike klappte den Chipdeckel wieder auf und ließ Rüdiger hineinschauen. Darin lagen unordentlich eine Menge Nullen und Einsen herum. Aber jetzt erkannte Rüdiger es wieder: Natürlich, das war sein Code. Jetzt konnte er auch sehen, wo der Fehler war. Mit ein paar Handgriffen stellte er die Nullen und Einsen um. Auf einmal war ihm alles klar. „Danke euch, Jungs, ich glaube, ich habe den Fehler gefunden. Ich muss jetzt hier nur irgendwie wieder hinauskommen.“
„Das ist aber nicht so einfach. Selbst Bill ist hier noch nicht rausgekommen.“ Mike schüttelte den Kopf, „Außerdem brauchen wir Dich hier. Du kannst mir helfen, die anderen Fehler zu finden.“ Rüdiger spürte, wie ihn Panik ergriff. Er begann zu rennen, immer in Richtung des Luftstroms. Er hörte, wie die beiden hinter ihm herriefen: „Rüdiger, bleib doch hier, Rüdiger…Rüdiger…Herr Erdmann, Herr Eeeerdmann!!!…“
Woher kennen die auf einmal meinen vollen Namen, fuhr es ihm durch den Kopf. Dann spürte er, wie er an der Schulter geschüttelt wurde. Er merkte plötzlich, dass er gar nicht lief, sondern auf seinem Stuhl im Büro saß. Er schlug die Augen auf und blickte in das wütende Gesicht seines Chefs. „Na wunderbar, endlich aufgewacht? Ist das Programm fertig?“
Oh Schreck, das Programm !
Daran hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. Aber er wusste irgendwie noch, was zu tun war. Er änderte ein wenig seinen Quelltext ab, erstellte eine neue EXE-Datei, klickte nach dem Start in der schon oft praktizierten Weise darauf herum und tatsächlich: Der Fehler trat nicht mehr auf. Er kopierte die Datei auf eine Diskette und reichte diese seinem Chef.
„Ist gut, Erdmann. Fahren Sie nach Hause und schlafen Sie dort weiter.“ knurrte der nur und rannte zur Tür hinaus.