Hier Öffnen
Ich ernähre mich von Fertignahrung, jedenfalls meistens. Ich stehe dazu, ich weiß, dass es nicht gut ist, aber ich tue es. Schuld ist der Erfinder der Schere. Wäre dieses geniale Werkzeug nicht erfunden worden, ich wäre zu einer drastischen Umstellung meiner Ernährung gezwungen.
Wer hat eigentlich die Schere erfunden? Ich sollte ein paar Blumen auf sein Grab legen …
Möglicherweise brennt der geneigte Leser jetzt auf eine Erklärung. Werfen wir doch einen Blick in den Einkaufswagen, den ich durch den Supermarkt meines geringsten Misstrauens schiebe:
Fertigpizza, in einem Pappkarton und nochmals in Folie eingeschweißt.
Schokoplättchen mit Minze darin. Herrlich, aber vor dem Genuss ist eine Folie zu überwinden.
Schinken, wieder eine Folie, die ihn vor meinem unmittelbaren Zugriff schützt.
Tortellini, ebenfalls in Folie.
Käse, wir sind nicht überrascht zu sehen, dass auch dieser in einer Folie steckt.
Wer ahnt schon das Problem?
Richtig, es ist die Folie.
Wenden wir uns der Pizza zu. Der Karton ist kein Hindernis. Ich habe eine Technik entwickelt, diesen an der richtigen Seite mit dem unbewaffneten Finger regelrecht aufzuschlitzen. Die Folie sieht harmlos aus. Ich packe sie mit beiden Händen und reiße beherzt daran. Das Ergebnis entspricht nur zum Teil meinen Erwartungen. Die Folie geht unkontrolliert in Fetzen und ich muss den Belag der Pizza gründlich nach den Folienresten absuchen.
Andernfalls erfahre ich aus erster Hand, warum der Zubereitungsschritt „Folie entfernen“ so wichtig ist, dass er auf der Packung extra erwähnt wird.
Außerdem stinkt Weichplastik bei 200 Grad ganz schrecklich.
Von Pizza könnte ich mich also auch ohne Schere zur Not weiterhin ernähren, ich muss nur meine Sehkraft regelmäßig überwachen lassen, damit ich die kleinen Fetzen der Folie rechtzeitig sehe, bevor sie mit dem Belag verschmelzen.
Der Schinken sieht harmlos aus. Zuvorkommend grinst mich an einer Ecke ein rotes Dreieck an. „Hier Öffnen“ steht darauf und eine schwungvolle Linie deutet an, dass man diese Ecke einfach nach oben hebt und schon gibt’s Schinken aufs Brot. Also spiele ich das kleine Spiel mit mir: Was wäre, wenn du keine Schere hättest?
Ich kann es fühlen, ein winziger Teil der roten Ecke ist nicht mit der Unterseite der Verpackung verklebt. Das ist meine Chance. Aber dieser Teil ist eben winzig, zu winzig für einen Grobmotoriker wie mich. Ich kratze an dieser Ecke herum, ich blase dagegen, immer in der Hoffnung, dass ich einen Fingernagel in den Zwischenraum bekommen könnte. Dann hätte ich gewonnen. Aber nichts zu machen. Der Blick geht zu meiner Schere. Da hängt sie an der Wand, völlig unbeteiligt, aber sie beobachtet mich aus den Augenwinkeln. Sie weiß, ich kann nicht ohne sie. Aber noch gebe ich nicht auf. Kratzen, blasen, fluchen, jetzt gibt die Ecke nach, endlich. Diesmal habe ich das Spiel gewonnen. Aber ich gewinne nicht jedes Mal.
Und da ist ja noch der Käse. Auch da gibt es eine „Hier Öffnen“-Ecke. Allerdings wurden hier beide Teile der Verpackung vollflächig verklebt. Keine Chance mit kratzen, blasen und fluchen. Die Schere triumphiert. Ich spiele nicht mehr, ich kämpfe. Aber der Käse ist hüllenlos.
Ich kann endlich zu Abend essen. Schinkenbrot und Käsebrot. Ich muss mich stärken für weitere Verpackungen.
Später am Abend kommen diese Schokoplättchen dran. Bei genauem Hinsehen erkenne ich einen Faden, der in die Folie eingearbeitet ist. Wenn ich daran ziehe, trennt er die Verpackung in zwei Hälften. Der Rest ist ein Kinderspiel. So ist es in der Theorie.
In der Praxis muss ich zuerst das Ende des Fadens finden. Das ist nach dem Einschalten eines 300-Watt-Deckenfluters glücklich geschafft. Jetzt muss ich das erstaunlich kurze Ende des Fadens zwischen Daumen und Zeigefinger bekommen, um daran ziehen zu können.
Nehmen wir einmal an, dass auch das gelingt. Ich ziehe also und … der Faden reißt. Ich könnte jetzt wieder das Ende suchen, aber ich hole meine Schere.
Das ungesunde Essen vom Vortag ist verdaut, heute gibt es Tortellini. Das Wasser kocht schon, die Teigwaren sollen in ihr heißes Bad gleiten. Vom Dampf ist die Brille leicht beschlagen, ich kann die fröhliche Ermunterung „Hier bitte Öffnen“ auf der Packung also gar nicht lesen. Ich zerre am oberen Ende der Packung herum. Aber wie um mich zu verhöhnen, bleibt sie fest verschlossen. Oder sie reißt völlig unerwartet an anderer Stelle auf und ich darf die Tortellini vom Küchenboden klauben. Meine Schere sieht mir von ihrem Platz an der Wand zu. Ob sie Mitleid hat? Sie weiß um ihre Unentbehrlichkeit und ist entsprechend arrogant.
Ich habe in solchen Momenten immer eine Vision: Ein Verpackungsingenieur in einem kahlen Raum, so wie Gott ihn dereinst schuf und ganz ohne Schere. Er hat von ihm selbst verpackte Vorräte für eine Woche. Gelingt es ihm, die Verpackung zu öffnen, senkt sich eine Wand seiner Zelle und er kann eine, bis auf die Schere, voll ausgestattete Luxusküche benutzen. Wird er eine Woche Haft unter diesen Bedingungen ohne Gewichtsverlust überstehen?
Wir sind gespannt …