Grenzerfahrungen
Nein, dies ist keine esoterische Betrachtung über die letzten irdischen und ersten himmlischen oder höllischen Momente. Hier geht es vielmehr um gänzlich prosaische Erlebnisse mit Grenzbeamten. Diese Geschichten sind wahr und selbst so erlebt
Die erste Geschichte spielt an einer Grenze, die mittlerweile auf dem Schrottplatz der Geschichte gelandet ist: Die innerdeutsche Grenze. Anfang 1990 war diese ja bereits in beide Richtungen durchlässig, die DDR-Behörden hatten jedoch erhebliche Probleme mit schwarz getauschten Ost-Mark, die munter geschmuggelt wurden. Ich wohnte zu dieser Zeit in der Nähe der Grenze und habe im Februar 1990 einen Tagesausflug ins damals noch andere Deutschland unternommen. Bei der Einreise wurde ich bereits rausgewunken, das Auto wurde aber nur oberflächlich durchsucht und ich musste eine Zollerklärung ausfüllen.
Bei der Rückreise am Abend hieß es wieder: „Bitte fahren Sie mal rechts ran. Haben Sie was zu verzollen ?“ Diese Frage konnte ich guten Gewissens verneinen, woraufhin die junge Grenzbeamtin anfing, die Fußmatten anzuheben und den leeren Kofferraum auszuleuchten. Aber dann fiel Ihr doch etwas auf: „Was liegt da hinten auf dem Rücksitz?“ Deutlich sichtbar lagen dort meine Lederjacke und ein Kissen. „Nehmen Sie die Sachen doch bitte mit und folgen Sie mir.“ Ich tat Ihr den Gefallen, auch aus Neugierde darauf, was nun wohl geschehen würde.
Zuerst erforschte Sie gründlich den Inhalt meiner Jackentaschen inklusive Brieftasche. Nun, dachte ich mir, das gehört wohl dazu. Jetzt nahm sich jedoch ein anderer junger Grenzer, der bisher nur daneben gestanden hatte, des Kissens an. Er ging damit auf einen riesigen Kasten zu der mit „Vorsicht, Röntgenstrahlen!“ beschriftet war, öffnete diesen und legte das Kissen hinein.
Nun war ich überzeugt, dass gleich ein Regisseur auftauchen müsste um diesem schlechten Film ein schnelles Ende zu bereiten. Der kam jedoch nicht, stattdessen trat auch die Grenzerin zu dem Röntgenapparat und beide schauten abwechselnd angestrengt ins Okular. Während Ihr Kollege gerade die andere Seite meines unschuldigen Kissens untersuchte, drehte Sie sich zu mir um und bemerkte mit gequältem Lächeln: „Das ist nur zu Schulungszwecken.“
Ich hatte inzwischen alle Hoffnung auf einen gnädigen Regisseur fahren lassen, wollte deshalb die Dramaturgie der Ereignisse nun selbst beeinflussen und antwortete „Und, haben Sie was gelernt dabei?“
Ich biss ich mir auf die Zunge, aber der freche Spruch war heraus. Ich sah mich schon im Gelben Elend von Bautzen verschwinden und malte mir die hektischen diplomatischen Verwicklungen zwischen Bonn und Ost-Berlin aus. Die junge Frau war aber auch nicht auf den Mund gefallen und konterte „Haben Sie denn was gelernt dabei?“. Wahrheitsgemäss antwortete ich: „Ich habe gelernt, dass das hier lange dauern kann.“
Was hätte ich auch sonst lernen sollen. Wenn sie mich auch mal hätten gucken lassen, wüsste ich jetzt wenigstens, woraus mein Kissen besteht. Dessen röntgentechnische Untersuchung förderte offensichtlich keinen anderen Inhalt als Federn zu Tage und so durfte ich dann alles wieder mitnehmen.
Kaum zehn Meter weiter hörte ich wieder die vertrauten Worte „Fahren Sie bitte mal rechts ran. Haben Sie was zu verzollen?“ Diesmal war es der West-Grenzer. Als er dann auch noch wissen wollte, was da hinten auf dem Rücksitz liegt, konnte ich den lange unterdrückten Lachkrampf nicht mehr halten. Außerdem wurde mir klar, dass ich den bislang unsichtbar gebliebenen Regisseur dieser Komödie sträflich unterschätzt hatte. Auf die ausdrückliche Versicherung hin, die Sachen wären bereits geröntgt, durfte ich schließlich weiterfahren.
Die andere Geschichte spielt ein paar Jahre später an der französisch-italienischen Grenze in einem kleinen Dorf in den Westalpen. Es war Herbst und in dieser Höhe war gerade der erste Schnee gefallen. Die Straße war mit Schneematsch bedeckt, der jedoch bei Berührung sofort schmolz, so dass ich das Anlegen der mitgeführten Schneeketten nicht für nötig hielt.
Die beiden italienischen Grenzer sahen das aber anders und bestanden darauf, dass ich die Schneeketten aufziehen sollte. Bei meinem Erscheinen war bereits ein deutliches Leuchten über Ihr Gesicht gegangen, denn ein alleinreisender Deutscher mit Campingbus versprach wohl etwas Abwechslung. Ich brachte nicht genug italienische und französische Wörter zusammen, um den beiden zu erklären, warum ich das Anlegen von Schneeketten für sinnlos hielt. Also tat ich, was sie wollten, fuhr auf ihr Zeichen hin den Wagen in den Tiefschnee neben der Straße und begann die Schneeketten aufzuziehen. Vorher wollten die beiden aber noch alle meine Papiere haben, damit sie in ihrer gemütlichen Stube etwas zu lesen hatten.
Wenn ich die Ketten aufgezogen hätte, könnte ich mir die Papiere wieder abholen. Während ich mit klammen Fingern die Ketten aufzog, fuhren etliche Autos vorbei, natürlich alle ohne Schneeketten. Das letzte Auto war ein Schneepflug, der auch den geringsten Grund zum Aufziehen von Schneeketten an den Straßenrand schob. Inzwischen hatte ich meine Ketten aber angelegt und bekam jetzt Sehnsucht nach meinen Papieren.
Die beiden tapferen Grenzer saßen in ihrer mollig warmen Stube. Der eine wog bedächtig das Beamtenhaupt und murmelte etwas von „Problemi“. Er hielt mir dann den Fahrzeugschein und meinen Führerschein hin.
Ich verstand zuerst nicht, bis er auf den Namen zeigte. Mein Familienname war im Fahrzeugschein mit UE und im Führerschein mit U-Umlaut geschrieben. In den Augen dieser Vorkämpfer der europäischen Einigung hatte ich mir also mein Auto gestohlen. Ich wollte Ihnen erst etwas von Zeichensätzen und ähnlichem Zeug erzählen, aber dann konnte ich die beiden Herren schließlich mit der Gleichung „UE = Ü“ davon überzeugen, dass ich tatsächlich ich bin. Zurück am Auto wühlte mich aus dem Tiefschnee, ich hatte ja Ketten aufgezogen, klimperte noch ein paar Meter mit den Schneeketten über den fast trockenen Teer und nahm sie wieder ab.