Der Weiße Mönch
„Diese Figur hier symbolisiert die Heuchelei. Ihm sitzt ein Storch, der Vogel der Erkenntnis, auf den Schultern, der ihm in die Nase zwickt. Er soll uns sagen, dass wir uns an die eigene Nase fassen sollen.“
Die Reisegruppe drängte sich um die geschnitzte Figur am Fenster. Sie sah wirklich grotesk aus mit dem langen Hals des Vogels, der sich über den Kopf des Mannes beugte.
„Damit wäre unser kleiner Rundgang durch die Stiftsbibliothek beendet. Falls sie noch Fragen haben oder sich noch einmal umschauen möchten … Wir schließen in fünf Minuten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“
Die Leute schlurften in ihren überdimensionalen Pantoffeln über das blanke Parkett, Kameras surrten und klickten.
Gleich nachdem der Fremdenführer meine Eintrittskarte abgerissen hatte, wurde ich von ihm nicht weiter beachtet. Die Reisegruppe aus älteren Herrschaften nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Das kam meinen Plänen sehr entgegen, schließlich war heute die Nacht des Jahres, in der der Weiße Mönch hierher zurückkommen sollte, um nach einem bestimmten Buch zu suchen.
Die anderen Besucher drehten mir den Rücken zu und bewegten sich zum Ausgang, der Führer war schon nicht mehr zu sehen. Ich schlüpfte in einen der Aufgänge zur Galerie, die, außer an der Fensterseite, um den Bibliothekssaal herumlief. Die Stimmen und Schritte der Leute entfernten sich. Ich sah auf meine Uhr: fünf Minuten nach Vier. Das war die letzte Führung. Ich durfte mich nicht erwischen lassen, wenn hier jemand seine Runde machte, dann hätte ich es geschafft.
Die letzten Stimmen verhallten, ein paar Türen fielen krachend zu. Ich lugte vorsichtig aus meinem Versteck hervor. Der Saal war leer, aber die Eingangstür war noch offen. Die tief stehende Sonne schien durch die Fenster und tauchte die Rückseiten der alten Bücher in warmes Licht. Ich schlüpfte wieder zurück in den engen, dunklen Aufgang. Diesmal nahm ich die letzten, vernehmlich knarzenden, Stufen bis hinauf zur Galerie, um mich dort oben zu verstecken. Jederzeit konnte jemand seine letzte Runde machen.
Plötzlich waren wieder Stimmen zu hören, ein Mann und eine Frau. Sie kamen näher. Ich duckte mich hinter der Balustrade. Den Eingang konnte ich von meinem Platz aus sehen. Der Fremdenführer und die Frau, die mir die Eintrittskarte verkauft hatte, kamen herein und blickten sich suchend um. Sie rief:
„Hallo, ist da jemand?“
Er ging zum hinteren Aufgang, sah hinein und schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, ich habe ihn doch am Ausgang gesehen …“ murmelte er und ging zurück zu seiner Kollegin, die sich noch immer suchend umsah.
„Warum sagst du das nicht gleich? Dann schließen wir jetzt ab.“
Sie verließen den Bibliothekssaal und zogen die Tür hinter sich zu. Ich hörte, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Jetzt war ich allein mit Tausenden von Büchern und später vielleicht mit dem Weißen Mönch. Würde er kommen? Würde er nach dem einen Buch suchen, wie es die Legende berichtete? Angeblich müsste er jedes Jahr in dieser Nacht im November wieder kommen, bis er das eine Buch gefunden hätte. Erst dann könnte seine Seele Ruhe finden.
Viele Berichte von Leuten, die den Weißen Mönch tatsächlich gesehen hatten, gab es nicht. Die meisten hatten nur ein Irrlicht hinter den Fenstern der Bibliothek gesehen.
Ich zog meine Schuhe aus, um unnötiges Knarren der Dielen beim Herumschleichen zu vermeiden. Hier oben gab es neuere Bücher als die, welche unten im Saal den Augen der Besucher präsentiert wurden. Zum Teil waren die Rücken mit altdeutscher Druckschrift versehen. Das meiste waren Predigten und Erbauungsliteratur. Diese Werke hatten die Schwestern des Zisterzienserinnenklosters zusammengetragen. Nur in einer dunklen Ecke fand ich ähnlich alte Wälzer, wie sie unten zu sehen waren. In blassen, lateinischen Buchstaben waren die Titel auf die Rücken gedruckt. Aber ich wollte jetzt nicht lesen, sondern dem Wahrheitsgehalt einer Legende nachspüren und so widerstand ich der Versuchung, das eine oder andere Buch aus dem Regal zu ziehen. Wie leicht konnte es beim darin Herumblättern beschädigt werden. Zum Lesen würde es auch bald zu dunkel sein. Die Sonne war schon nicht mehr zu sehen, draußen flammten erste Straßenlaternen auf. Der eben noch warme Braunton des Holzes an den Wänden und der geschnitzten, lebensgroßen Figuren wandelte sich zu einem matten Grau. Mir gegenüber war die Figur des Mannes mit dem Storch auf den Schultern. Körper und Hals des Vogels hoben sich nur noch undeutlich vor dem Hintergrund des Fensters ab.
Ich suchte mir einen bequemen Platz auf der Galerie. Die nächsten Stunden würde ich warten müssen. Wenn der Weiße Mönch kommen sollte, dann wohl erst um Mitternacht, denn das war der Zeitpunkt, zu dem er damals, nicht weit von hier, im Wald von Wegelagerern erschlagen wurde.
An dieser Stelle, in der Mitte der Galerie, wollte ich warten. Hier hatte ich beide Eingänge im Auge. Der zweite Eingang, gegenüber dem Haupteingang, war stets verschlossen und führte ins Kloster. Aber für einen Geist wäre eine verschlossene Tür wohl nicht wirklich ein Hindernis.
Die Zeit kroch dahin. Ich döste, mit den alten Büchern im Rücken, immer wieder ein. Wenn meine Beine einzuschlafen drohten, stand ich auf und ging ein paar Schritte, um die Blutzirkulation in Gang zu halten. Sonst hieß es warten. Draußen war es Nacht geworden. Ab und zu schien der Mond zwischen den Wolken durchs Fenster. Die geschnitzten Figuren warfen dann bizarre Schatten auf den Boden. Auch im gegenüberliegenden Gästehaus des Klosters gingen langsam die Lichter aus. Ich sah auf die Uhr: Gleich war es elf Uhr, eine Stunde würde ich noch warten müssen. Oder eventuell die ganze Nacht …
Jetzt wollte ich wach bleiben. Ich nahm mein Handy heraus und begann eines dieser Spiele zu spielen, bei denen man möglichst große Gruppen von bunten Kugeln verschwinden lassen musste.
Die Glocken der Klosterbasilika schlugen. Ich zählte mit: …neun…zehn…elf…zwölf…Mitternacht. Jetzt musste er kommen. Ich ließ das Handy in die Tasche gleiten.
Das Läuten verklang, aber nichts passierte. Die Minuten vergingen und außer meinem Atem war nichts zu hören.
Waren das Schritte, hinter der der Tür, die zum Kloster führte? Für einen Moment glaubte ich, mein Herz würde stehen bleiben. Ich hielt den Atem an. Das schlurfende Geräusch verstummte. Wieder Stille. Doch jetzt wurde die Klinke heruntergedrückt, ganz langsam. Der Türflügel öffnete sich mit leisem Quietschen. Sollte es tatsächlich wahr sein? Mein Herz schlug bis zum Hals. Eine Gestalt trat ein, eine Gestalt in einer weißen, blutbefleckten Kutte. Der Mönch hielt eine flackernde Kerze in den Händen. Das Gesicht war durch die weit heruntergezogene Kapuze verborgen.
Der Mann ging mit schlurfenden Schritten zum gegenüberliegenden Aufgang. Was würde geschehen, wenn er mich hier oben fand? Ich hörte das Knarzen der Stufen, als er die Wendeltreppe hinaufstieg. Er atmete schwer. Jetzt trat er auf die Galerie. Ich spürte einen seltsamen, kalten Lufthauch. Der Mann sah nicht in meine Richtung, sondern ging zu den besonders alten Büchern, die ich hier oben entdeckt hatte. Er stellte seine Kerze auf die Balustrade und zog ein dickes, graues Buch aus dem Regal. Er legte es neben die Kerze, schlug es auf und begann zu lesen.
Seltsame Gedanken und Namen kamen auf einmal, wie von außen, in mein Hirn: Leviathan … Behemoth … Was war das? Woher kam das?
Plötzlich war die Bibliothek verschwunden. Da waren keine geschnitzten Figuren und kein Parkettboden mehr, auch keine Bücher. Vor mir lag ein Strand, das Meer wurde vom Sturm aufgewühlt, Wolken jagten über einen dunklen Himmel, von dem unentwegt Blitze zuckten. Wo war ich? Wie war ich hier hingekommen?
Schwere Schritte ließen den Boden erzittern. Ein gewaltiges Tier mit langen, spitzen Hörnern trabte langsam in Richtung Meer. Es sah aus wie ein riesiger Widder.
Das Wasser wurde aufgewühlt und ein Drachenkopf erschien zwischen den Wogen. Mit roten Augen sah sich der Drache um. Als er den Widder bemerkte, begann er zu fauchen. Der Widder senkte den Kopf und fuhr mit den Spitzen seiner Hörner durch den Sand.
Was war das hier? Wollte ich nicht einem seit Jahrhunderten toten Mönch dabei zusehen, wie er nach einem Buch suchte? Statt dessen sah ich diese seltsamen Wesen, was hatte das zu bedeuten?
Der Drache kam fauchend näher ans Ufer, wo der Widder immer noch drohend den Sand mit seinen Hörnern durchpflügte. Der hob den Kopf, fixierte den Drachen, senkte den Kopf wieder und stürmte schnaubend los, dass der Boden bebte. Der Drache wich dem Stoß aus, schlug den ins Leere stürmenden Angreifer mit seiner Schwanzflosse, sodass dieser sich in die entgegengesetzte Richtung drehte und jetzt mit seinen Hörnern die Flosse auf dem Rücken des Drachens zerfetzte.
Der brüllte und schnappte nach dem Angreifer, der sich aber mit einem raschen Sprung zu Seite rettete. Wieder pflügte er mit seinen Hörnern den Sand um und stampfte mit den Hufen. Der Drache kam auf den Widder zu, doch der war an Land viel schneller und ging schon wieder mit gesenktem Kopf auf das Untier los. Diesmal fuhren die Hörner tief in die Flanke des Drachen. Der packte den Hals des Widders mit seinem riesigen Maul. So ineinander verkeilt rangen die Urzeitmonster um jeden Meter Boden. Der Sand färbte sich blutig rot und wurde von den wild kämpfenden Kreaturen aufgewirbelt. Schließlich bewegten sie sich in Richtung Meer. Blutige Gischt spritzte. Mal tauchte der eine, mal der andere Körper auf. Schließlich versanken beide im tosenden Meer.
Ebenso plötzlich, wie dies alles gekommen war, verschwand es auch und ich befand mich wieder in der Bibliothek. Mit zitternden Knien stand ich auf der Galerie, nur wenige Meter von dem Weißen Mönch entfernt. Der hatte das Buch wieder zugeklappt und stellte es seufzend zurück ins Regal. Dann nahm er seine Kerze und ging die knarzenden Stufen der Wendeltreppe hinunter. Er schlurfte zur Tür und war verschwunden.
Meine Knie zitterten noch immer und das Herz schlug mir bis zum Hals. Was war passiert? Was hatte ich hier erlebt? Vorsichtig ging ich zu dem Regal, in welches der Mönch das Buch zurück gestellt hatte. Dies hier musste es sein, der Buchrücken ragte noch etwas vor. Ich zog es vorsichtig heraus. Es war sehr schwer. Ich hielt den verstaubten Einband ins Mondlicht. „Leviathan und Behemoth“ stand darauf. Ich begann zu lesen …
Den Schauplatz dieser Geschichte, die Stiftsbiliothek Waldsassen, habe ich hier beschrieben: Februar 2018 – Stiftsbibliothek und Kappl.
(c) Henning Schünke