Der Große Bruder spricht zu Dir
Hintergrund der Geschichte zum Thema Überwachungskameras:
In der englischen Stadt Middlesbrough haben die sogar einen Lautsprecher um die Leute vor der Kamera anzusprechen. Jetzt braucht man nur noch ein bisschen zu spinnen…
Der große Bruder spricht zu Dir.
Noch drei Stunden auf die Monitore glotzen. Dann ist meine Schicht vorbei. Ich gehe meine Bildschirme durch:
Kamera Eins, eine ruhige Wohngegend. Aber die Leute da wollten unbedingt eine Kamera, damit wir auf ihre Vorgärten aufpassen und sehen, wer die Blumen knickt. Hier ist nie was los.
Die Zwei, schon seit Wochen kaputt. Der Bildschirm ist schwarz.
Kamera Drei, mein „Liebling“. An dieser blöden Ampel könnte ich dauernd den Leuten zurufen:
„Nur bei Grün gehen, nicht bei Rot!“
Es ist haarsträubend. Da sollte ein Band laufen. Jetzt rennt schon wieder einer bei Rot rüber. Ich nehme mein Mikro:
„Nicht bei Rot gehen!“
Der dreht sich nicht mal um, kennt das wohl schon.
Auf der Vier ist es lustiger. Da kommen die jungen Leute aus dem McDonalds und verstreuen ihren Müll. Herrlich, den ganzen Tag könnte ich sie zusammenscheissen. Nur im Moment ist keiner da.
Die Fünf, eine belebte Straße, viel Verkehr. Wie die wieder alle rasen. Aber da sollen sich die Kollegen von der Verkehrspolizei drum kümmern. Radar hat meine Kamera fünf schließlich nicht, aber einen Lautsprecher.
Die Sechs, genau vor dem Ausgang der Passage. Da sind eine Menge Klamottenläden drin. Und die Mädels, die da rumlaufen. Schon knackig, aber meine Tochter dürfte sich so nicht sehen lassen. Da, guck Dir das an, wenn den beiden bloß nichts aus dem Ausschnitt fällt.
Die Sieben: genau vor der Grundschule. Hier werde ich euch irgendwann erwischen, ihr Päderastenschweine. Immer unseren Kindern auflauern! Aber jetzt ist die Schule schon aus, da gibt es heute nichts mehr zu überwachen.
Ein Blick zur Drei, ach ist gerade grün. Dann passt es ja.
Die Sechs, herrlich. Da kommen wieder zwei so Mädels, Beine bis an die Ohren, Wahnsinn. Mein Vorgänger hat bei offenem Mikro gepfiffen, da war er weg. Ich pass‘ besser auf. Ihr braucht Miniröcke, Mädels, keine Jeans, Miniröcke!
Eine hektische Bewegung auf der Drei, ein junger Kerl sprintet noch vor dem Bus über die Straße, natürlich bei Rot. Ich nehme wieder das Mikro:
„Junger Mann, nur bei Grün, das wissen Sie doch.“ Er dreht sich um, grinst, zuckt die Achseln. Da müsste wirklich Einer von uns stehen.
Ein Junge schlurft an der Eins vorbei. Jetzt dreht er sich um und…was macht der denn da? Sein Körper zuckt in einem Rhythmus, den nur er hören kann. Der tanzt gar nicht schlecht, aber hier wird ihn niemand entdecken. Wenn er in ein paar Minuten nicht weg ist, werde ich ihm mal was sagen müssen.
Da, zwei Kerle kommen aus dem McDonalds, der eine mit brauner Jacke, der andere mit blauer Jacke.
Sieh an, Braun hat was fallen lassen, so ganz lässig, dachte wohl ich seh‘ das nicht. Na warte, Bürschchen.
„Sie da in der braunen Jacke, heben sie das bitte auf!“
Blau bleibt stehen und glotzt.
„Nicht Sie, braune Jacke habe ich gesagt.“
Er zupft Braun am Ärmel. Jetzt dreht der sich auch um. Er zuckt die Schultern. Mein Gott, wie ich diese Geste hasse. Komm, Bursche, du wirst jetzt tun, was ich sage!
„Fünf Schritte zurück!“
Er geht tatsächlich zurück, steht jetzt genau vor dem Müll.
„Bücken und aufheben!“
Er bückt sich und sammelt den Müll auf.
„Sehr schön. Zwei Meter weiter ist ein Papierkorb. Da tun Sie das jetzt bitte rein!“
Der Müll landet im Papierkorb.
Ich sage, was wir dann immer sagen sollen:
„Danke, dass sie helfen, unsere Stadt sauber zu halten.“
Doch der Kerl zeigt mir den Stinkefinger hinter dem Rücken! Ich drücke eine Taste. Jetzt werden die letzten zwei Minuten der laufenden Aufzeichnung dauerhaft gespeichert. Na warte, Bürschchen, das wird Dir noch leidtun. Wir haben dein Gesicht.
„Solche Gesten wollen wir hier nicht sehen. Sie hören von uns!“
Der Breakdancer auf Kamera eins wirbelt immer noch herum.
„Junge, lass es gut sein. Dies ist die Polizei, nicht der Broadway. Geh nach Hause.“
Er bleibt abrupt stehen, als er meine Stimme hört, und streckt die Zunge raus. Mein Finger schwebt schon über der Taste. Aber in der Gegend lieber nicht, das könnte Ärger mit den Eltern geben.
Auf der Drei ist gerade Rot, Zeit für meine Ansage:
„Nicht bei Rot über die Straße gehen!“
Auf der Sechs kommen die beiden Langbeinigen wieder aus dem Laden. Jetzt seh‘ ich sie von vorn. Ja solche Dinger, ist denn das die Möglichkeit! Geht ihr doch auch mal zum McDonalds und lasst was fallen, dann könnte ich mit Euch flirten.
Auf der Fünf steht eine alte Frau an der Straße. Sie will rüber, aber hier gibt es keine Ampel. Jedem anderen würde ich sagen, er soll weiter zur Ampel an der nächsten Ecke gehen. Aber die Frau wohnt vielleicht da drüben. Da kommen vier Jugendliche. Die können jetzt mal was Nützliches tun. Ich nehme mein Mikro:
„Seid ihr wohl so gut, der alten Frau über die Straße zu helfen?“
Sie bleiben stehen, sehen dann meine Kamera und grinsen. Macht jetzt bloß keinen Fehler. Aber die sind echt gut. Zwei halten den Verkehr an und zwei andere führen die Frau über die Straße.
So mache ich die Welt jeden Tag ein Stückchen besser. Ich liebe meinen Job.