Das Moor
Die bisher noch fahle Sonne am wolkenverhangenen Himmel ist jetzt ganz verschwunden. Dort, wo der graue Dunst etwas heller ist, muss sie wohl sein. Der Weg vor mir besteht aus glitschigen, feuchten Holzbohlen und zieht sich schnurgerade durch das Moor. Seit ich das letzte Stück festen Bodens verlassen habe, sind wohl zehn Minuten vergangen. In der Ferne verliert sich der Bohlenweg im Dunst. Hin und wieder tauchen links und rechts schemenhaft die Gerippe abgestorbener Bäume aus dem tiefschwarzen Wasser auf und sind nach einigen Schritten wieder vom Dunst verschluckt.
Als ich, vor vielleicht einer Stunde, mein Auto auf dem kleinen Wanderparkplatz abgeschlossen habe, war das Wetter bestimmt nicht perfekt für einen solchen Ausflug. Aber viel mehr kann man im November nicht erwarten. Seitdem ist der Dunst fast schon zum Nebel geworden und der Wind wird immer kälter. Die Neugierde auf das, was am Ende des Weges ist, treibt mich aber weiter. Außerdem kann ich in solch einsamen Gegenden am besten nachdenken.
Durch den Dunst scheint es, als würde der Holzbohlenweg auf eine Insel im schwarzen Wasser zu führen. Richtig, nach vielleicht einhundert Schritten habe ich federnden, aber ausreichend festen Grund unter den Füßen. Der Weg führt weiter zwischen Birken und anderen Bäumen, die teilweise in kleinen Tümpeln stehen. Der Dunst ist jetzt wirklich zum Nebel geworden, den der Wind als zähe, graue Masse durch die niedrige Vegetation treibt. Ein Teil von mir will umdrehen, aber eine forsche innere Stimme wischt alle Bedenken beiseite:
‚Solange Du einen Weg siehst, kannst Du auch auf demselben Weg wieder umdrehen. Ist doch kein Problem. ‘
Also gehe ich weiter.
Nach ein paar Schritten komme ich an eine Weggabelung. Kein Schild, kein Hinweis, Nichts. Beide Wege sehen ähnlich aus und so nehme ich den Rechten. Vielleicht ist dies der Rundweg durch das große Moor. Die Büsche und niedrigen Bäume verschwinden. Ich gehe wieder auf einem feuchten, rutschigen Bohlenweg, umgeben von schwarzem Wasser. Der Wind treibt mir feinen Nieselregen ins Gesicht. Die Bohlen sind durch den Regen noch rutschiger. Ich muss sehr vorsichtig auftreten und kann nur kleine Schritte machen, um nicht abzurutschen. Wenn ich hier in das schwarze Wasser falle, gibt es keine Rettung mehr.
Fast bin ich bereit umzukehren. Auch die eben noch so forsche innere Stimme ist nun etwas kleinlaut. Doch was ist das?
Es klingt wie Glockenläuten. Etwas unregelmäßig, aber da läutet eine Glocke, ganz eindeutig. Meine Neugier gewinnt noch einmal die Oberhand und ich tapse weiter durch den Regen auf dem schmalen Bohlenweg in Richtung auf etwas, das ich nur hören, aber noch lange nicht sehen kann.
Wieder stehen die Baumgerippe wie Mahnmale im Wasser. Wollen sie mich mit ihren dürren, wie Finger hochgereckten Ästen zur Umkehr mahnen?
Aber es sind nur tote Bäume, die im sauren Boden des Moores nicht überleben konnten. Ich stapfe weiter.
Sind das schon die Umrisse der nächsten Insel da vor mir im Nebel?
Wo es eine Kirche gibt, da ist ein Dorf, da sind Menschen, vielleicht eine Buslinie. Oder ein Taxi kann mich von hier abholen. Bald habe ich die Insel erreicht und wieder den federnden Boden unter den Füßen. Über den niedrigen Birken und Büschen zeichnet sich nun auch schemenhaft der Kirchturm ab. Das Läuten ist lauter geworden.
‚Warum läuten die überhaupt den ganzen Tag? ‘ frage ich mich.
Der Weg führt auf ein großes, rostiges Tor zu. Links und rechts davon steht eine efeubewachsene, verwitterte, mannshohe Ziegelmauer. Einzelne Ranken des Efeus greifen schon nach den Torflügeln. Es ist nicht verschlossen und ich öffne einen Flügel. Das Scharnier schreit laut quietschend auf.
Ich bin auf einem Friedhof. Nebelfetzen werden vom Wind zwischen den verwitterten, schiefen Grabsteinen hindurch gejagt. Viele Gräber sind von Unkraut überwuchert. Die meisten Grabsteine sind zu verwittert, um noch eine komplette Inschrift lesen zu können. Ab und zu sehe ich einen Namen oder eine Jahreszahl: „Josefine…Theobald…1864…in stillem Angedenken…Ruhest in Gott…“
Beim Herumstreifen zwischen den Gräbern komme ich der Kirche näher und das unregelmäßige Läuten wird lauter. Es hört sich so an, als würde nur der Wind die Glocke bewegen. Das passt zum Eindruck dieses verlassenen Friedhofs. Einen Bus oder gar ein Taxi wird es hier wohl nicht geben.
Doch jetzt habe ich diesen unwirklichen, aus der Zeit gefallenen Ort entdeckt und will auch hinter sein Geheimnis kommen. Ich wundere mich über meine Kaltblütigkeit. Aber die forsche innere Stimme ist auch wieder da: ‚Wir sind in Mitteleuropa. Gespenster, Zombies, Untote…gibt’s alles nicht. Geh da jetzt rein! ‘
Ich stehe vor der morschen Kirchentür und drücke die Klinke herunter. Knarzend öffnet sie sich einen Spalt breit und ich schlüpfe hinein. Drinnen schlägt mir modriger Gestank entgegen. Auf dem Boden sind Wasserlachen und es tropft an mehreren Stellen von der Decke. Die Kirchenbänke sind zum Teil zusammengebrochen. Von einer dicken Staubschicht bedeckt liegen die Trümmer überall herum. Die Altardecke liegt noch an ihrem Platz, ist aber von Motten zerfressen.
Plötzlich ein Geräusch hinter mir, wie das Knarzen der Tür als ich hereingekommen bin. Eine Gestalt betritt das Kirchenschiff: Graues Kopftuch, wollener, knöchellanger, schwarzer Rock und ein schwarzes Umschlagtuch um die Schultern. Eine alte Bäuerin aus der Gegend. Als wäre die Kirche noch intakt, kniet sie kurz vor einem, wohl nur für sie sichtbaren, Heiligenbild nieder. Dann steht sie auf und kommt langsam auf mich zu.
Ich erstarre. Dort wo ihr Gesicht sein sollte, das runzlige Gesicht einer alten Frau, ist…Nichts. Nur Schwarz. Ein tiefes Schwarz wird von Ihrem Kopftuch umrahmt. Ich will rennen, nur weg hier. Aber dafür muss ich an ihr vorbei. Egal, ich springe über die erste Reihe der zertrümmerten Kirchenbänke, stürze, raffe mich wieder hoch und renne weiter zum Ausgang. Ich drehe mich nicht um. Ich kann dieses Schwarz nicht noch einmal sehen. Mein Herz schlägt bis zum Hals, ich habe Seitenstechen, aber ich muss rennen. Es kann nicht sein was ich gesehen habe und doch habe ich es gesehen. Da ist der Bohlenweg. Er ist nass…rutschig…ich verliere den Halt. Das schwarze Wasser kommt auf mich zu…