Abwärts
Unser Zug war schon seit Stunden unterwegs. Wegen des Krieges mussten immer mehr alte Güterwagen benutzt werden, denn „Räder müssen rollen für den Sieg!“ So kam es, dass dieser Zug aus Waggons mit mechanischen Bremsen bestand. Diese wurden von Bremsern bedient, die in kleinen Kabinen am Wagenkasten saßen. Pfiffe der Lok gaben ihnen Befehle. Einer dieser Bremser war ich.
Unser Ziel war Schlesien. Wir hatten Munition und Proviant für die immer mehr nach Westen zurückweichende Ostfront geladen. Es war Winter und bitterkalt in meinem Bremserhäuschen.
In Neuenmarkt, am Fuß der Schiefen Ebene, sollte uns eine weitere Dampflok die Steilrampe hinaufschieben. Aber diese Lok war zwei Tage zuvor von Tieffliegern beschossen worden und noch nicht wieder einsatzbereit. Der Zug musste geteilt werden und unsere Lok sollte ihn alleine die Steilrampe hinaufziehen.
Jetzt befand ich mich in meinem Bremserhäuschen am Ende des ersten Zugteils. Als unsere Lok Kohle und Wasser genommen hatte, ging es los.
Der Lokführer beschleunigte so gut er konnte, um mit möglichst viel Schwung in die Rampe hineinzufahren. Die Auspuffschläge dröhnten gewaltig, eine riesige Dampfwolke ausstoßend, fuhren wir aus dem Bahnhof hinaus. Ich liebe noch immer das rhythmische Geräusch einer fahrenden Dampflok, aber nie wieder habe ich es so intensiv wahrgenommen, wie an diesem Nachmittag. Die Steigung machte sich bald im Fahrgeräusch der Lok bemerkbar. Die Auspuffschläge kamen langsamer, waren aber noch lauter. Bald kroch unser Zug kaum schneller als ein Fußgänger die Rampe hinauf, immer untermalt vom schweren Keuchen der Lok. Die Wagen ächzten und quietschten, aber es ging stetig voran. Ich konnte den Blick etwas schweifen lassen. Zur Rechten sah man über ein bewaldetes Tal, linker Hand lag der Hang an den sich die Strecke schmiegte.
Nach mehr als einer halben Stunde, die wir bergan gekrochen waren, kamen die ersten Häuser von Marktschorgast in Sicht. Wir hatten es fast geschafft. Ich schaute nach vorne zur Lok, die im dichten Qualm kaum zu sehen war.
Plötzlich ein Knall und ein metallisches Geräusch. Der Zug blieb stehen und da kam auch schon von vorn das Notsignal: Drei kurze Pfiffe. Zugtrennung! Bremsen, bremsen um jeden Preis!
Mit fliegender Hast drehte ich am Handrad um die Bremsen meines Wagens anzulegen, aber der Zug rollte schon zurück. Ich blickte aus dem Fenster zur Lok und sah meinen Kameraden aus dem Bremserhäuschen zwei Wagen vor mir abspringen. Verdammt, warum bremst der nicht? Er fiel in den Schnee, stand auf und schrie mir zu: „Spring ab!“
Mein Handrad konnte ich nicht weiter drehen, die Bremsen lagen an. Wenn die anderen drei Bremser dasselbe tun würden, dann könnten wir es noch schaffen. Aber der Zug wurde immer schneller. Die Lok oben im Bahnhof gab immer wieder das Notsignal, drei kurze Pfiffe. Aber es klang immer weiter entfernt.
Jetzt kam beißender Qualm von unten. Die Bremsbeläge waren heiß geworden. Aber ich wollte die Bremsen nicht lösen. Irgendjemand musste ja versuchen, dieses Monstrum aus Stahl, das jetzt immer schneller ins Tal schoss, zu bändigen. Doch ich konnte nichts tun. Wenn die anderen Bremserhäuschen nicht besetzt waren, dann würde mein Wagen die bergab rasenden 250 Tonnen nicht aufhalten können.
Der Gestank der glühenden Bremsen nahm mir den Atem. Auch wurde ich in dem heftig schlingernden Wagen hin- und hergeworfen. Ich klammerte mich an einer Griffstange fest und schaute auf die Strecke vor mir. Mein Gott, wir waren wirklich viel zu schnell!
Ich konnte nur hoffen, das nichts entgleiste und man rechtzeitig alle Hindernisse unten im Bahnhof beseitigen würde. Da fiel mir der zweite Zugteil ein, der ja noch unten stand. Ich zerrte wieder panisch am Handrad. Es ließ sich tatsächlich noch etwas weiter drehen, aber nur, weil die Bremsbeläge fast abgebrannt waren. Bald ließ auch der Gestank nach und mein Wagen gab ein kreischendes Geräusch von sich. Jetzt rieb Metall auf Metall. Ich schaute hinaus und sah wie zu beiden Seiten des Wagens die Funken in den Schnee flogen. Hastig wischte ich den Angstschweiß von der Stirn.
Der hintere Teil des durchgegangenen Zuges verschwand in einer Wolke wirbelnden Schnees. In der Dämmerung wurde dies vom Funkenflug der Bremsen beleuchtet. In den Kurven kreischte der Zug ohrenbetäubend. Die ganze Zeit schlingerten die Wagen so sehr, dass sie jeden Moment aus den Schienen springen mussten. Aber das geschah nicht. Noch nicht.
In meinem Wagen setzte jetzt großes Gepolter ein, wahrscheinlich fiel die Ladung durcheinander. Mit lautem Krach flog in einer Kurve die Seitentür splitternd davon, gefolgt von einigen Kisten.
Ich sah die Häuser des Bahnhofs Neuenmarkt. Jetzt konnte ich den Verlauf der Gleise erkennen. Der zweite Zugteil stand noch immer dort, wo wir ihn zurückgelassen hatten. Und ich sah auch, dass der Zug darauf zu hielt. Es gab aber eine Weiche vor den abgestellten Wagen. Diese würde mich auf ein Parallelgleis bringen und wenn nichts entgleiste könnte ich an dem Hindernis vorbeikommen. Aber die Weiche stand nicht auf Abzweig. Immer weiter raste ich darauf zu. Wussten sie hier überhaupt was oben passiert war?
Noch 200 Meter bis zur Weiche. 150 Meter. Langsam erst begann sich die Weichenlaterne zu drehen. 100 Meter. Die Weiche war halb gestellt. Sie mussten es schaffen. Unbedingt! Stellt die verdammte Weiche! 50 Meter. Die Weiche sprang um. Ich sah zwei Rangierer die Hemmschuhe auf das Gleis legten auf dem ich gleich entlang rasen würde. Ich klammerte mich fest, den Blick starr auf die abgestellten Wagen gerichtet. Ich flog erst nach links, dann nach rechts. Dann spürte ich einen Ruck und das mich umgebende Kreischen wurde noch lauter. Mein Wagen war noch im Gleis und er war auf die Hemmschuhe aufgefahren. Ich spürte wie es in meiner Hose warm und feucht wurde. Auch das noch! Aber egal, ich war am Leben. Der Zug schob die Hemmschuhe mit lautem Kreischen vor sich her. Wie ein feuerspeiender Drache schoss er funkenstiebend durch den Bahnhof. Aber ich merkte dass der Zug langsamer wurde. Ein Stück hinter dem Bahnhof kam er zum Stehen. Nie zuvor gehörte Stille umfing mich. Mit zitternden Knien kletterte ich vom Wagen und erbrach mich in den Schnee.